Wendland-Tour (Teil 1)
Von Wittenberge ins Land der Rundlinge

Bei sonnigem Spätsommerwetter breche ich zu einer mehrtägigen Tour auf, die mich über die Grenze Brandenburgs hinaus in das benachbarte niedersächsische Wendland führen soll – eine Region, die aufgrund der jahrzehntelangen Auseinandersetzungen um das Atommüll-Endlager Gorleben so etwas wie das „kleine gallische Dorf“ geworden ist: eine widerspenstige Region mit einer ausgeprägten Protestkultur, die durch ihre Lage abseits der großen Zentren aber auch viele Aussteiger und Landliebhaber anzieht. Geplant habe ich eine 5-Tages-Tour, bei der ich unterwegs wild Campen möchte. Ausrüstung gepackt, und los geht es!

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Erster Tag. Ich starte am Morgen gegen 8.00 Uhr am Bahnhof von Wittenberge und überquere zunächst die Elbe, der ich auf dem Elberadweg in Richtung Norden folge. Nach rund 20 Kilometern Fahrt erreiche ich die Stadt Schnackenburg und befinde mich nun bereits in Niedersachsen. Die idyllisch und direkt am Fluss liegende „kleinste Stadt Deutschlands“ befand sich zu Zeiten der deutsch-deutschen Teilung im östlichsten Zipfel der BRD, der – wie das gesamte Wendland – weit in das Gebiet der DDR hineinragte.

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Noch in den 1960er Jahren wurden im Schnackenburger Hafen rund 15.000 Binnenschiffe pro Jahr abgefertigt, wie ich auf einem Schild erfahre. Heute geht es hier allerdings sehr viel ruhiger zu, und die Stadt scheint hauptsächlich von Fahrradtouristen zu leben. Weiter geht es durch die Elbmarsch in Richtung Gartow, wo ich eine Frühstückspause einlege.

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Durch das Waldgebiet Gartower Tannen und über die Orte Prezelle und Simander fahre ich nun in Richtung Westen. Ich bin erstaunt auch in relativ kleinen Orten noch Lebensmittelgeschäfte und Sparkassen zu finden, die im benachbarten Brandenburg nur noch in größeren Zentren zu finden sind, und nutze die Chance mir einen Liter Milch für den nächsten Morgen zu kaufen.

Gegen 18 Uhr erreiche ich die 75 km-Marke und beschließe mir einen Schlafplatz zu suchen. Fernab der Dörfer finde ich eine versteckt liegende Wiese, auf der ich mein Zelt aufschlage, während das Liegerad unter einer Plane verschwindet.

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Nach einem intensiven Froschkonzert in der Dämmerung wird es schließlich still und der Nebel steigt aus den Wiesen auf. Als ich nachts in den Himmel schaue, staune ich über einen phantastischen Sternenhimmel, an dem unzählige Sterne und sogar die Milchstraße zu erkennen sind. Für einen Stadtbewohner wie mich ein äußerst seltener Anblick, für den allein sich das Campen in dieser Nacht schon gelohnt hat. [Wie ich später erfahre, befand ich mich hier tatsächlich in der Region mit dem dunkelsten Nachthimmel Deutschlands, wie sich der Webseite darksitefinder.com entnehmen lässt.]

Zweiter Tag. Nach einer kalten Katzenwäsche an einem Wiesengraben packe ich mein nasses Zelt und fahre weiter nach Thurau, wo ich in der Dorfmitte einen Rastplatz finde und frühstücke. Praktischerweise finden sich überall entlang der Strecke – ähnlich wie im östlichen Brandenburg – alte Obstbäume, so dass ich auch unterwegs nicht mein Lieblingsfrühstück Haferflocken mit Milch und Obst verzichten muss. Heute gibt es die alten Apfelsorten Uelzener Rambour und Landsberger Renette.

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Auf dem Weg nach Lüchow entdecke ich Feldsteinkirchen und zwei beeindruckend große Raupen: Es handelt sich um die Raupe des Mittleren Weinschwärmers (Deilephila elpenor), die bei Gefahr den Kopf einzieht und ihre großen Augenflecken präsentiert um Feinde abzuschrecken. Als erwachsenes Tier wird sie ein hübscher olivgrün-rosafarbiger Nachtfalter. Rechts daneben eine Raupe des Weidenbohrers (Cossus cossus), die im Holz alter Weiden lebt. Beide Raupen werden rund 8 cm lang.

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Die Stadt Lüchow ist mit ihren 9500 Einwohnern das lebendige Zentrum der südlichen Wendlandes. Die Fachwerk-Altstadt ist recht schön, jedoch ist mir hier der Durchgangsverkehr ein wenig zu hektisch, so dass ich mich bald wieder auf das Rad setze und weiterfahre, denn vor mir liegt eine interessante Region, die ich nun ausgiebig erkunden möchte.

Westlich von Lüchow beginnt der Drawehn – eine historische Landschaft, die mit ihren seltsamen Ortsnamen auf eine frühere slawische Besiedelung hinweist. Besonders charakteristisch sind die hier vorkommenden Rundlingsdörfer (kurz: Rundlinge), in denen mehrere Fachwerk-Niedersachsenhäuser kreisförmig um einen Platz angeordnet sind, wobei die repräsentativen Schmuckgiebel stets zur Mitte des Platzes zeigen. Die Dörfer haben meist nur eine Zufahrt und liegen abseits der Straßen, wodurch sich eine friedliche, fast andächtige Atmosphäre ergibt, die durch den Bestand mit alten schattigen Eichen noch verstärkt wird.

Auf der Route SchreyanKremlinSatemin, Lübeln, Tolstefanz, Diahren verbringe ich hier den ganzen Tag und fahre von Dorf zu Dorf.

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Auf den Querbalken und am Torbogen sind meist ein Hausspruch, das Baujahr und die Namen der Erbauer eingeschnitzt. Die meisten Häuser wurden demnach zwischen 1700 und 1900 erbaut, und von „Ruine“ bis „liebevoll restauriert“ finden sich Häuser in allen Zustandsformen.

Leider gibt es in fast jedem Dorf aber auch Häuser aus der Kategorie „lieblos verschandelt“. Der Wunsch nach einem modernen Haus und die Abneigung gegen alles Alte war in den Nachkriegsjahrzehnten weit verbreitet und führte zum Verlust unzähliger historischer Häuser – gut dokumentiert in den Filmen des legendären Filmemachers Dieter Wieland, der schon in den 1970er Jahren die Zerstörung von Natur und historischer Bausubstanz unter dem Deckmantel des Fortschritts anprangerte (Filmtipp auf YouTube: „Unser Dorf soll hässlich werden“ von 1975).

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Nach einem langen Tag mit rund 20 Dorfbesichtigungen auf einer Strecke von 60 Kilometern wird es Zeit wieder einen Übernachtungsplatz zu suchen. Unterwegs konnte ich bei einer Mittagspause mein Zelt in der Sonne trocknen lassen, so dass einer bequemen und trockenen Nacht nichts mehr im Weg steht. Eine geeignete Campingstelle finde ich schließlich in der Nähe eines Dorfes an einer Sandgrube: Die zweite Nacht unter freiem Himmel kann kommen.

Weiter geht es mit: Wendland-Tour (Teil 2) – Vom Hohen Drawehn zurück ins Elbtal